Die Psychoanalyse hat von ihrem Gründer Sigmund Freud eine eher religionskritische Einstellung geerbt, für Freud war Religion meist nicht mehr als „Regression“ auf
frühkindliche Entwicklungsphasen; mit „ozeanischen Gefühlen“ und der „Schlammflut des Okkultimus“ konnte er nichts anfangen. Die Beschäftigung mit Meditation erscheint vielen Psychoanalytikern
heute noch als „narzisstischer Rückzug und damit als Abwehr gegenüber der zwischenmenschlichen Beziehung“ (S. 114). Umgekehrt hegen asiatische Lehrer des Dharma oft ein gewisses Misstrauen gegen das aus
ihrer Sicht nutzlose Herumstochern im Brei der eigenen Neurosen, dadurch werde nur das illusorische „Ich“ verstärkt, dessen Leerheit doch gerade zu realisieren sei.
Dennoch haben beide Traditionen eines gemeinsam: Sie wollen seelisches Leiden heilen und arbeiten zu diesem Zweck mit Methoden er Introspektion und Selbsterforschung. Nach Ansicht der
beiden Autoren, die in der vorliegenden Arbeit die Reflexionen ihres Werks „Neurose und Erleuchtung“ (2009) weiterführen, zeichnet sich der Buddhismus durch eine „Kultur der Präsenz“ aus,
während die Psychoanalyse eine „Kultur der Reflexion“ pflegt. Wie beide „Kulturen“ in einen fruchtbaren Dialog treten könnten, ist das Thema ihres Buches.
Zunächst fassen die Autoren die jeweiligen „Arbeitsmodelle“ zusammen. Für den Buddhismus greifen sie auf die bekannten Vier Edlen Wahrheiten zurück, wobei sie
ausführlich auf die säkulare Interpretation von Stephen Batchelor eingehen. Ihre Darstellung der Psychoanalyse folgt den klassischen Schriften Freuds und klammert spätere Entwicklungen weitgehend aus.
Spannend wird es in Kapitel 5, wenn die Autoren fragen, was Buddhisten und Psychoanalytiker voneinander lernen könnten. Beide Wege gehen vom Leiden aus und wollen das getäuschte
Bewusstsein ent-täuschen; dies kann von Seiten des Analytikers nur gelingen, wenn er eine quasi-zen-buddhistische „Form von Präsenz entwickelt, bei der er mit seinen Wünschen (...) und seinen Konzepten
auf eine abstinente Weise umzugehen habe; dass er seine Wünsche vergesse und eine Haltung der Absichtslosigkeit zu entwickeln habe“ (S. 157), einen „Anfänger-Geist“ (S. 162). Der meditierende Buddhist
könnte mithilfe der Psychoanalyse eine größere „Frustrationstoleranz gegenüber Langeweile, Gefühlen der Leere, Verzweiflung, unerfüllten Wünschen, negativen Lebensbilanzen und (...)
Angstfreiheit gegenüber den regressiven Tendenzen“ (S. 172) entwickeln und eventuell die „Gefahr einer Re-Traumatisierung auf dem Kissen“ (177) erkennen.
Im dritten Teil des Buches finden sich sehr lesenswerte Ausführungen zum Verhältnis von Traum, Trauma und Meditation. Abschließend resümieren die Autoren: „Ob
der Buddhismus wirklich dort beginnt, wo die Psychoanalyse endet, bleibt nach unseren Ausführungen eine offene Frage (...) Vielleicht könnte man sagen, dass die Psychoanalyse die unterschiedlichen Faktoren der individuellen
Persönlichkeitsentwicklung untersucht und fördert, die diese ‘akzeptierende Grundhaltung’ ermöglichen. Der Buddhismus hat eine umfassende Übungspraxis entwickelt, die diese ‘akzeptierende
Grundhaltung’ mit einer weitgehend veränderten Lebenspraxis realisiert.“ (S. 269)
Die Arbeit bewegt sich auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau und ist hauptsächlich für akademisch Gebildete zu empfehlen. Was ihr wegen der Beschränkung auf den Zen-Buddhismus
notgedrungen fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit der speziellen Problematik des tibetischen Buddhismus, insbesondere der Lehrer-Schüler-Beziehung.
http://www.v-r.de/de/buddha_und_freud_praesenz_und_einsicht/t-1/1036303/
KOAN: „Aus Leid wird Freud, aus Freud wird C.G. Jung.“ (H.C. Artmann)
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