Karl-Heinz Brodbeck: Wahrheit und Illusion. Ein buddhistischer Blick auf eine Welt der Täuschung.
Frankfurt am Main: Tibethaus 2019. ISBN 9-783957-02060. € 29,00
Die Frage nach der Wahrheit ist ein Grundproblem der Philosophie. Neben dem Vertrauen auf die Korrespondenz von Aussage und Sein steht spätestens seit den Sophisten der Zweifel an
der Fähigkeit des Denkens, Wahrheit überhaupt zu erkennen. Die heutige Situation ist seit dem Aufkommen der Postmoderne geprägt von einem vulgären Skeptizismus; die Behauptung, es gebe überhaupt keine
absolute Wahrheit, erfreut sich in unserer Gesellschaft inzwischen weitgehender Zustimmung. Die Religionen, die vermeintlich absolute Wahrheiten verkünden, verfallen folglich dem Verdacht, „dogmatisch“ zu
sein.
Dies trifft auch den Buddhismus (ganz gleich, ob man den Buddhadharma als „Religion“ oder nicht betrachtet). Denn zweifellos hat der Stifter dieser Tradition schon in seiner
ersten Lehrrede vier Wahrheiten (satya) verkündet, von denen er auch noch vollmundig behauptete, sie seien „an keine Zeit gebunden (akaliko), einladend, anregend, durch die Weisen selbst zu erkennen“. Allerdings
unterscheidet die buddhistische Tradition von Anfang an zwischen dem weltlichen (lokiya), d.h. diskursivem und vorläufigem Verständnis des dharma und dem überweltlichen, direkten Schauen der 4 Wahrheiten (vipassana).
Der Wirtschaftswissenschaftler Karl-Heinz Brodbeck unternimmt in seinem neuen Buch den dankenswerten Versuch, das Thema Wahrheit und Illusion aus buddhistischer und westlicher Perspektive
zu ergründen. Er will zunächst aufzeigen, dass Wahrheit und Illusion in West und Ost unterschiedlich interpretiert wurden, um anschließend, gestützt auf die Philosophie Nagarjunas, Täuschungen zu
überwinden und „durch gültige Erkenntnis unser natürliches Streben nach Glück in selbstbestimmte, realisierbare Bahnen zu lenken“.
Brodbeck geht zunächst ausführlich auf die Theorie der absoluten und relativen Wahrheit ein (Kap. 2). Nach einem überleitenden Kapitel zur Rezeption des Buddhismus im Westen
(3) entwickelt er eine Theorie der Illusion (4), die er anschließend auf die abendländische Philosophie der Moderne (5), auf mediale Propaganda (6) sowie Wirtschaft und Ethik (7) anwendet.
In der Einleitung macht der Verfasser deutlich, dass er „Buddhismus“ nicht so sehr als Religion sieht, sondern als Philosophie und Methode der Geistesschulung, die angesichts
des aktuellen Verfalls der öffentlichen Diskussion einen Beitrag zur Begründung einer säkularen Ethik leisten kann: „Wenn „Buddhismus“ ein leerer, also ein offener Begriff ist, wenn man damit
keine definitive Grenzziehung möglich wird, dann lässt sich das, was darin gelehrt wird, durchaus problemlos an andere Denkformen anbinden oder durch Gedanken aus ihnen erläutern.“ (S. 26).
Das Kapitel „Wahrheit“ scheint mir das gelungenste des ganzen Buches zu sein. Brodbeck fasst die buddhistische Diskussion recht gut zusammen und deutet den Begriff des abhängigen
Entstehens mit dem quantentheoretischen Begriff der „Verschränkung“, was ihn zu der Definition führt: „Leerheit ist der Prozess des Loslassens aller Begriffe im und aus dem Erkennen ihrer Verschränkung.“
(88) Diese Verschränkung ist auch eine zeitliche (103); die Offenheit ist zugleich „reines Bewusstsein“ (108 ff.), das sich selbst gewahrt (135).“Dieses Gewahren ist aber keine Substanz, sondern nur
eine andere Ausdrucksweise für das Offene, für die Leerheit.“ (136)
Welche westliche Philosophierichtung eignet sich nun am besten als Anknüpfungspunkt für das Madhyamaka-Systen? Brodbeck favorisiert in Kapitel 3 die pyrhonische Skepsis der
Spätantike; Schopenhauer und Nietzsche hält er hingegen nur teilweise für Buddhismus-kompatibel.
Seine Theorie der Illusion entfaltet Brodbeck aus dem bekannten Seil-Schlange-Gleichnis und der Formel „etwas als etwas anderes wahrnehmen“. Klarheit und Evidenz sind für
ihn kein ausreichendes Wahrheitskriterium; die illusionäre Natur der Erscheinung sei abhängig von der Begriffsbildung, der Sprache und der leiblichen Verkörperung („die absolute Illusion ist untrennbar
von der Verkörperung“, 237). Worauf sich dann aber eine konventionell gültige Erkenntnis stützen soll, wenn man wie im Nominalismus eine reale Existenz von Einzeldingen annimmt, ist mir nicht klar geworden
(S. 235). Aus der illusionären Natur von Karma zieht Brodbeck die aus meiner Sicht völlig überzogene Konsequenz, die traditionelle Karmalehre sei „diffus und widersprüchlich“, vom Buddha so
nicht gelehrt worden (201) oder ein Trick, um die Vorherrschaft der Brahmanen in der altindischen Kastengesellschaft zu untergraben. Brodbeck findet es absurd, dass das „Karmagesetz (...) die wahre Substanz der Welt“
(203) sei. Aber ich fürchte, genau so ist es: karmajam lokavaicitritryam, "aus den Handlungen der Wesen entstehen die Welten" (Abhidharmakosha IV/1a).
Kapitel 5 beschreibt recht zutreffend die Grundlagenkrise der abendländischen Philosophie und Wissenschaft und die zahlreichen reduktionistischen Theorien des 20. Jahrhunderts, die
diese Krise überwinden sollten: Nietzsches Lebensphilosophie, neoliberale Wirtschaftstheorie, Machs Empirokritizismus, Wieners Kybernetik, Systemtheorie, Freuds Libido usw. Dass diese Theorien immer nur teilweise mit
Buddhismus kompatibel sind, ist nachvollziehbar. Dass Brodbeck allerdings zur Transzendentalphilosophie und Phänomenologie nicht mehr einfällt als die abstruse Behauptung, Kant und Husserl hätten „die
Abstraktion ‘Mensch’ durch ‘Geist’, ‘transzendentales Ego’ oder ‘reines Ich’ übersetzt“ (253), ist verwunderlich. Es ist auch befremdlich, wie man des langen und breiten
über Illusion und Täuschung schreiben kann, ohne an die transzendentale Dialektik in der „Kritik der reinen Vernunft“, das schöne Kapitel vom „transzendentalen Schein“ (KrV B 350-355),
die Amphibolie der Reflexionsbegriffe, Phaenomena und Noumena usw. zu denken. Eine Auseinandersetzung mit der modernen Logik fehlt.
Befremdet haben mich die mehrfachen wiederholten Angriffe auf alles, was nach Tradition, Hierarchie, Abstufung klingt. Tantra gefällt Brodbeck wegen der Geheimhaltung nicht (37),
zwischen „Heiligen“ und gewöhnlichen Menschen dürfe es keine Trennung geben (208), jede „soziale Hierarchie von Wissenden und Unwissenden“ (214) sei abzulehnen, „wer sich nicht in der
Alltagsdiskussion verständlich machen kann, der kennt auch die absolute Wahrheit nur als Illusion“ (238) - all das gipfelt schließlich in der Aussage, es sei ein Zeichen von Arroganz, sich „aus der Welt
der Illusion“ in die „Waldeinsamkeit“ zu entfernen (237). Alles Angeber, diese bhikkhus und gelongs - „sozial engagierter Buddhismus“ ist das Gebot der Stunde...
Was ist da los? Antwort (nach Ken Wilber und Don Beck): Boomeritis. Das grüne Mem, wenn es pathologisch wird. Mit den Worten von Matthias Larsen: „Gelb zum Beispiel ehrt und umarmt verschachtelte Hierarchien, Werte-Rangstufen, universelle Systeme, und starken Individualismus. Grün schaut auf alle diese Begriffe – Universalien, Hierarchien, Ränge,
Individualismus – und schreit „Unterdrückung! Herrschaft! Marginalisierung! Elitismus! Arroganz!“ und so weiter.“ (Matthias Larsen: Unmögliche Rhetorik boomeritis und ihre rhetorischen Probleme,
www.integralworld.net/de/larsen_de.html).
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