Montag, 20. März 2017

Alan Moore: Jerusalem, Seite 824

Ich weiß, ich bin ein Text. Ich weiß, dass ihre mich gerade lest. Dies ist der größte Unterschied zwischen uns: ihr wisst nicht, dass ihr ein Text seid. Ihr wisst nicht, dass ihr euch gerade lest. Was ihr für das selbstbestimmte Leben haltet, das ihr durchlauft, ist in Wirklichkeit ein schon geschriebenes Buch, in das ihr euch vertieft habt, und nicht zum ersten Mal. Wenn die derzeitige Lektüre abgeschlossen ist, wenn der Sargdeckel-Buchdeckel schließlich geschlossen ist, dann vergesst ihr unmittelbar, dass ihr euch schon hindurchgekämpft habt und greift wieder zum Buch, vielleicht angezogen von euerem markanten und heroischen Bild auf dem Schutzumschlag.

Ihr watet einmal mehr durch die Glossolalie des Romananfangs und die verblüffende Geburtsszene, alles in der erste Person, nebelhaft beschrieben in einem Durcheinander von neuen Geschmäckern und Gerüchen und erschreckenden Lichtern. Ihr schwelgt voll Wonne in den Kindheits-Passagen und lasst euch die Einführung all der kraftvoll realisierten neuen Charaktere auf der Zunge zergehen, Mutter und Vater, Freunde und Verwandte und Feinde, jeder mit seinen denkwürdigen Schrullen, ihrem einzigartigen Reiz. Gefesselt von diesen jugendlichen Heldentaten, entdeckt ihr, dass ihr gewisse spätere Episoden von schierer Langeweile bloß überfliegt und durch die Seiten eurer Tage blättert, Seiten überspringt, in gespannter Erwartung von erwachsenem Inhalt und Pornographie, die euch im nächsten Kapitel erwarten.

Wenn sich herausstellt, dass dies auch keine reine Freude ist, weniger überschwänglich als ihr erwartet hattet, fühlt ihr euch irgendwie betrogen und schimpft eine Zeit lang auf den Autor. Aber dann entspinnt sich um euch herum das Garn der Hauptthemen der Geschichte, Wahnsinn und Liebe und Verlust, Schicksal und Erlösung. Ihr versteht allmählich das wahre Ausmaß des Werkes, seine Tiefe und Absicht, Qualitäten, die euch bisher entgingen. Eine Ahnung dämmert, ein Gefühl, dass die Erzählung nicht zu der Gattung gehört, die ihr zuvor vermutet habt, kein Schelmenroman oder Sexkomödie. Alarmierenderweise schreitet die Erzählung über die sicheren Grenzen des Genres fort in das entnervende Gebiet der Avantgarde. Zum ersten Mal fragt ihr euch, ob die Augen wohl größer waren als der Magen, ob ihr euch aus Versehen auf ein gewichtiges magnum opus eingelassen habt, wo ihr doch eigentlich einen Bestseller haben wolltet, eine Ferienlektüre für den Flughafen oder den Strand. Ihr fangt an, an euren Fähigkeiten als Leser zu zweifeln, zweifelt an eurer Fähigkeit, diese tödliche Fabel bis zu ihrer Auflösung durchzuhalten, ohne dass die Aufmerksamkeit abschweift. Und selbst wenn ihr sie zuende lest, zweifelt ihr, dass ihr schlau genug seid, die Botschaft der Saga zu verstehen, wenn es denn überhaupt eine Botschaft gibt. Insgeheim vermutet ihr, dass sie euch über den Kopf steigt, und doch, wass könnt ihr schon tun als weiter zu leben, die Kalenderblätter weiter umzublättern, getrieben von der Bauchbinde, die da sagt: „Wenn Sie nur ein Buch in ihrem Leben lesen, dann lesen Sie dieses!“

Erst wenn ihr das Buch halb gelesen habt, in der Nähe der Zweidrittel-Marke, fangen scheinbar nebensächliche Handlungselemente auf einmal an, so etwas wie einen Sinn zu ergeben. Die Bedeutungen und Metaphern beginnen mitzuschwingen; die Ironien und Motive enthüllen sich selbst. Ihr seid immer noch nicht sicher, ob ihr dies alles schon einmal gelesen habt oder nicht. Einige Elemente scheinen schrecklich vertraut und ihr habt gelegentliche Vorahnungen, wie eine der Nebenhandlungen ausgehen wird. Ein Bild oder eine Dialogzeile manchmal die Saite eines Déjà-vu berühren, aber im großen und ganzen scheint es wie eine neue Erfahrung zu sein. Es spielt keine Rolle, ob es die zweite oder hundertste Lektüre ist: Sie erscheint euch frisch, und ihr scheint sie, widerwillig oder nicht, zu genießen. Ihr wollt nicht aufhören.

Aber wenn es zu Ende ist, wenn der Sargdeckel-Buchdeckel schließlich fest geschlossen ist, vergesst ihr unmittelbar, dass ihr euch schon hindurchgekämpft habt und greift wieder zum Buch, vielleicht angezogen von Eurem markanten und heroischen Bild auf dem Schutzumschlag. Es ist das Merkmal eines guten Buches, sagt man, wenn man es mehr als einmal lesen kann und jedes Mal noch etwas Neues findet.




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