Samstag, 15. August 2015

Die Freude Monatshefte für freie Lebensgestaltung, Mai 1927

Es ist Frühling. Ich bin zwanzig Jahre alt. Mein Har ist blond. Ich bin verwachsen.
Ich wußte noch nie, wie schön das Leben ist. Ich möchte ein Lied singen Gott zur Ehre.
Als ich im Frühlicht zu meiner Waldwiese kam, stand ein Mädchen im Grase unter den Blumen - das war nackt. Es hatte die Arme ausgebreitet und jubelte über seine Schönheit und die Schönheit der Welt.
Mein Herz tat einen leisen Schrei. Ich strich an meinem Körper entlang und fürchtete mich sehr. Mein Körper war mir fremd und sprach nicht zu mir. Aber der Leib des Mädchens redete und ich verstand jedes Wort.
Das Mädchen sah mich an. Ich kannte sie nicht, sie war mir fremd. Sie stand regungslos und sah mich an. Allmählich erlosch der Glanz ihrer Augen. Mir schien, als ob das Haar dunkler wurde, die Nasenflügel bebten, der Mund zuckte und der Körper, die ganze, zarte Gestalt zitterte. Auf einmal weinte sie schreckhaft und kurz auf, wie hilflose Kinder weinen.
Ich wandte mich ab.
Es ist Frühling. Ich bin zwanzig Jahre lat. Ich habe mich heute zum ersten Male selbst gesehen. Wußte ich denn je, wie tief die Geigen klingen! Und wie voll der Mond am Himmel steht! Alle Menschen schlafen um mich. Oder alle sind wach, nur ich träume. Mir ist so merkwürdig zu Sinn.
Ich hadere nicht.
Ich weiß nur auf einmal, daß ich ein Mädchen bin.
Das Leben ist groß und weit und unendlich - ich sah heute ein Mädchen, das war schön.
Auf einmal verstehe ich alles. Auch das hilflose Weinen, das so unerklärlich in dem hellen Frühlingstag stand.
Das war ein Lied, das ein fremdes Mädchen auf meinen Körper sang. Mein Haar ist blond - und mein Weg geht am Leben vorbei.
(Hildegard Wöhrmann)


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