Dienstag, 4. August 2015

Tschurilin

Tschurilin war ein großes Original, dessen Einfälle neben denen eines exzentrischen Dollarnabobs bestehen konnten. Seine Streiche waren das Tagesgespräch der Moskauer.
Im Sommer, wenn seine Familie verreist war, lud Tschurilin seine Bekannten zu einer "Eisenbahnfahrt nach Petersburg" ein. Engeweihte wußten schon, was das bedeutete.
Der Zug, so hieß es in der Einladung, fährt pünktlich 7.30 Uhr ab.
Man erschien also pünktlich in der Wochnung des Millionärs und wurde in den Salon geführt. Das Zimmer war in ein Bahnhofsrestaurant umgewandelt. Auf dem Tisch, der sich unter der Last der Speisen bog, stand eine Batterie von Flaschen. Mehrere Kellner in der Kleidung von Bahnhofskellnern versahen den Dienst.
Um 7.30 Uhr wurde das Haus abgeschlossen. Kein Mensch wurde mehr eingelassen. Einige Minuten vor der Abfahrtszeit rief ein Eisenbahnschaffner vorschriftsmäßig aus: "Nach Petersburg, einsteigen!"
Die Gäste, die sich inzwischen im Hinblick auf die bevorstehenden Strapazen weidlich gelabt hatten, mussten sich jetzt ins Nebenzimmer begeben, dessen Tür verschlossen wurde. Sie durften allerdings Weinflaschen "mit ins Abteil nehmen". Im Zimmer saß man genau so lange, wie die fahrplanmäßige Eisenbahnfahrt bis zur nächsten Station der Strecke Petersburg-Moskau dauerte.
Erreichte man die Station, dann begab man sich wieder in das Bahnhofsrestaurant, das inzwischen von den Kellnern aufgeräumt und instandgesetzt worden war. Tschurilin selbst bewahrte seinen vollen Ernst und spielte die Rolle der Lokomotive, indem er bei der Abfahrt laut zischte und pfiff.
Dann ging die Fahrt weiter. Bei jeder Station wurde die Stimmung gemütlicher.
Um vier Uhr morgens, als der Zug fahrplanmäßig die Knotenstation Bologoe erreichte, konnten gewöhnlich einige Reisende die Reise nicht fortsetzen und mussten auf dem Bahnhof zurückbleiben. Tschurilin, der immer noch munter war, verkündete, daß sich einige Gäste leider verspätet hätten und deshalb zurückbleiben müßten.
Um 7.30 Uhr morgens wurde die Endstation Petersburg erreicht. Sämtliche Gäste lagen unter dem Tisch. Der einzige, der noch auf den Beinen stand, war Tschurilin selbst. Er pfiff bei der Einfahrt und fuhr aus seiner Wohnung sofort in sein Stammlokal, während seine Dienerschaft die Gäste in ihre Wohnungen beförderte.
Im Stammlokal wurde Tschurilin feierlich empfangen. Man servierte ihm eiskalten Wodka, eine saure Gurke und eine warme Fischpastete. Nach dieser Mahlzeit fuhr er in glänzender Verfassung in sein Bureau zu seinen Geschäften.

(Paul Burg, Lexikon berühmter Persönlichkeiten, S. 609)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen